In Rio ist wieder Ruhe eingekehrt. Die meisten Athleten, Journalisten und Touristen haben die Stadt kurz nach den Olympischen Spielen verlassen. Maria da Penha und ihre Familie bleiben. Aber in ihrem Umfeld ist nichts mehr, wie es einmal war. Die 51-Jährige steht am Zaun, der die Vila Autódromo vom Olympiapark Barra trennt, und zeigt, wo bis vor wenigen Monaten ihr Haus stand. Zwei Wochen lang fuhren tagein, tagaus Busse voller Journalisten an diesem Zaun entlang, parkten dort, wo Maria da Penha 23 Jahre lang gelebt hatte.

Eine Familie läuft vorbei und ruft: „Jetzt ist es viel schöner, seit die Favela geräumt wurde!“ Maria da Penha lächelt. „Gott segne euch, hoffentlich müsst ihr das nie erleben“, antwortet sie ruhig. Was die Familie sieht, ist eine neu gebaute Straße, zehn kleine, weiße Häuschen links, zehn kleine, weiße Häuschen rechts. Sauber, hübsch, ordentlich. Die neue Vila Autódromo erinnert ein bisschen an eine Ferienhaussiedlung. Was die Familie nicht sieht, ist der Schmerz, den Maria da Penha erlebt hat. Der Druck, dem viele ehemalige Bewohner der Favela nicht standgehalten haben. Die Gemeinschaft, die mit den Ziegelsteinbauten eingerissen wurde.

Fischer hatten die Vila Autódromo in den 1960er-Jahren am Rande der Lagune Jacarepaguá gegründet. Später kamen Arbeiter des Autodroms hinzu. Als Rios Bürgermeister Eduardo Paes die Bewohner 2012 informierte, dass sie wegen des Olympiaparks umziehen müssten, lebten rund 700 Familien in der Vila Autódromo. Er pries ihnen Apartments in einem nahe gelegen Wohnkomplex an, im Tausch gegen ihr Haus. Natália, Maria da Penhas Tochter, war 25 Jahre alt. Das Haus, das Paes haben wollte und an dem sie, seit sie mit sieben hergezogen war, kontinuierlich mitgebaut hatte, gehörte offiziell ihr.

Die Räumungsdrohung für Olympia war nicht die erste gewesen. Die Bewohner hatten jedes Mal erfolgreich Widerstand geleistet und in den 90er Jahren legale Besitztitel erkämpft: Wohnrecht auf 99 Jahre, mit Option auf Verlängerung um weitere 99. Die Titel gingen damals an die Kinder der Familien. Natália setzte sich mit ihren Eltern und der Oma zusammen. Sie entschieden: Wir bleiben. „Wir hatten hier alles: unser Haus, einen Garten, Obstbäume“, sagt die heute 29-Jährige. „Außerdem hatten wir das Recht, hierzubleiben.“ Sie schlugen auch das Geld aus, das die Stadt irgendwann denjenigen anbot, die nicht in die Apartments ziehen wollten.

2013 legten die Bewohner der Präfektur einen Urbanisierungsplan vor, den sie gemeinsam mit einer Forschergruppe entwickelt hatten. Das Konzept widerlegte die Argumente des Bürgermeisters, indem es Favela und Olympiapark ineinander integrierte. Zudem war es deutlich billiger als das, was die Präfektur für die Apartmentanlage, die Abfindungen, den Abriss und nun den Neubau der Häuser zahlte. Der Bürgermeister reagierte nie darauf.

„Das zeigt, dass die Olympischen Spiele nur ein Vorwand waren“, sagt Orlando Santos Júnior. Der Urbanismus-Professor der Staatlichen Universität Rio de Janeiro hat die Entwicklung des Plans aus der Ferne mitverfolgt. Worum es tatsächlich geht, ist ein exklusives Stadtprojekt, das Barra da Tijuca in ein Eliteviertel verwandeln soll. Carlos Carvalho, Besitzer der gleichnamigen Immobilienfirma und eines Großteils der Grundstücke in diesem Stadtteil, sagte gegenüber der britischen Zeitung „The Guardian“ vor einer Weile ungeniert: „Barra ist kein Ort für Arme. Die Menschen in der Vila Autodrómo müssen gehen.“

Natália macht das wütend: „Die Armen haben hier schon gelebt, als die Gegend nicht den geringsten Wert hatte. Und jetzt, wo sich die Elite dafür interessiert, sollen sie gehen? Das ist absurd!“

Doch der Bürgermeister steht in Carvalhos Pflicht, weil dieser 2012 seine Wiederwahlkampagne großzügig unterstützte. Also tat die Stadt alles, um die Favela am Rande des künftigen Olympiaparks aus dem Weg zu räumen. Nach den Angeboten kam der psychische Druck: „Wir haben in einem Kriegsszenario gelebt“, sagt Natália. Traktoren fuhren permanent um die verbliebenen Häuser herum. Wasser und Strom blieben aus. Die Polizei sei 24 Stunden am Tag in der Siedlung gewesen, habe, voll bewaffnet, auf dem einzigen Spielplatz der Siedlung gesessen. „Nichts davon war Zufall, das war ein eiskalter Plan“, ist sich Natália sicher.

Am 8. März 2016, dem Weltfrauentag, war Natálias Haus dran. Als sie erzählt, wie die Bagger das Gebäude innerhalb weniger Augenblicke einrissen, fängt sie an zu weinen. „Das ist so ein Gefühl von Ohnmacht. Sie zerstören alles, woran du dein Leben lang gearbeitet hast, und du kannst nichts machen.“ Die Familie wohnte eine Weile lang in der Kirche. Sie wollte die Vila nicht verlassen. Im April gelang es den Bewohnern, ein Abkommen mit der Stadt zu schließen. Die rund 60 verbliebenen Personen durften bleiben und bekamen neue Häuser. Kurz vor Olympia wurden die Schlüssel übergeben.

„Wer die Vila Autódromo jetzt sieht, hat keine Ahnung, was es hier einmal gab, wie die Menschen gelebt und was sie durchgemacht haben“, sagt Natália. Damit die Erinnerung nicht verloren geht, haben die Bewohner ihre Siedlung zusammen mit einigen Unterstützern in ein Freiluft-Museum verwandelt: das „Museu das Remoções“, Museum der Räumungen. Skulpturen, Plakate und Bildaufsteller erzählen die Geschichte der Vila Autódromo, aber auch die anderer Favelas. Architektur-Dozentin Diana hat das Projekt mitentwickelt und umgesetzt. „Räumungen sind etwas, das wir in allen Ländern sehen“, sagt die 34-Jährige – „besonders in der Vorbereitung Olympischer Städte.“

Die verbliebenen Familien in der Vila Autódromo konnten am Ende einen Triumph feiern. Aber auf dem Weg dahin haben sie viel verloren. Die Menschen in der Cidade de Deus dagegen sehen sich als Sieger der Olympischen Spiele. Sie haben mit Rafaela Silva die erste Goldmedaille Brasiliens gewonnen. Die 24-Jährige kommt aus der Favela, die durch den gleichnamigen Film – in Deutschland „City of God“, Stadt Gottes – bekannt geworden ist. Als sie am 8. August gegen Dorjsürengiin Sumiyaa kämpfte, fieberten etliche Menschen im Instituto Reação vor dem Fernseher mit. Rafaela ist ihre Judo-Kollegin, Schülerin, Freundin.

Ex-Olympionik Flávio Canto und Geraldo Bernardes, langjähriger Trainer der brasilianischen Nationalmannschaft, haben das Instituto Reação 2003 als Nicht-Regierungsorganisation gegründet. Das Ziel: Kindern aus Armenvierteln mit Hilfe von Judo und Bildung dabei helfen, ihr Leben zu verändern.

Als Rafaela Gold holte, war ihr Trainer Bernardes überglücklich. Er hofft jetzt, dass die Stadtregierung die vielen, neuen Arenen nach Olympia dazu nutzen wird, auch den Menschen aus Rios Favelas sportliche Angebote zu machen. Gerade dort gebe es viel Potenzial, glaubt Bernardes: „Die Kinder sind es gewohnt zu leiden. Und Leistungssport ist Leiden.“ Was fehlt, um dieses Potenzial zu entfalten, seien Schulen, Anreize, professionell ausgebildete Trainer.

Bislang hat die Präfektur von Rio de Janeiro allerdings wenig Interesse daran gezeigt, ihre Bevölkerung zu fördern – schon gar nicht die Armen. Eine der großen Hinterlassenschaften der Olympischen Spiele sollte die Urbanisierung sämtlicher Favelas der Stadt bis 2020 sein. Doch das Programm „Morar Carioca“ (Wohnen auf Rio-Art) verschwand 2014 wundersamerweise von der Liste der „Legate“, die die Stadt an das Internationale Olympische Komitee übergab. Die Zahl der Favelas, in der es umgesetzt wurde, lässt sich an einer Hand abzählen. Stattdessen räumte die Stadt Armenviertel – der Fall der Vila Autódromo ist nicht der einzige.

„Die Präfektur arbeitet an einem großen Projekt, das bestimmte Teile der Stadt elitisieren soll“, sagt Orlando Santos Júnior. Die Favelas, die diesem Projekt im Weg sind, müssen weichen. Andere werden urbanisiert oder mithilfe spezieller Polizeieinheiten „befriedet“. Um Frieden für die Bewohner geht es dabei nicht, sagt Santos – es geht um das Gefühl von Sicherheit in der Umgebung. Denn: Immobilien in der Nähe von Favelas verlieren an Wert. Gelten die Gegenden als sicher, die Favelas vielleicht sogar als „cool“, steigt der Wert wieder.

Was die Stadt in den Armenvierteln tut, unterscheidet sich je nach Gebiet und den dort geltenden Interessen des Markts. Denn das ist es, worum es geht. „Megaevents bringen keine Legate in die Stadt“, sagt Santos. „Sie bringen Handel und ordnen die Stadt den großen Wirtschaftsinteressen unter. Dieses Modell von Megaevents müssen wir überdenken.“

Erschienen am 24. August in der Freien Presse