Bayern verbietet „geschlechtergerechte Gendersprache“ in Bildungseinrichtungen und Behörden. Der DFB präsentiert pinke Trikots für die Europameisterschaft, und Fans fürchten eine „Entmännlichung“ und „Verschwulung“ der deutschen Fußballer. Warum fühlen sich eigentlich so viele Menschen bedroht, sobald jemand an der traditionellen Geschlechterordnung mit ihren traditionellen Zuschreibungen rüttelt?

Die bayerische Regierung argumentiert, dass es bei dem Verbot der Gendersprache vor allem um Verständlichkeit ginge. Können Sie das hier lesen?

„Es ist Fülrnihg. Die Vegöl zschierwtn. Hröst du die Aemsl? Sie sztit auf eniem Zeiwg. Die Dsseorl stmmit in das Kzernot ein. Ein weschunerödns Lied.“

Faszinierend, oder? Sie konnten diese Wörter lesen, obwohl sie total verdreht sind. Das liegt daran, dass wir Menschen nicht Buchstabe für Buchstabe lesen, sondern die Wörter als ganze erkennen. Zumindest solange der erste und der letzte Buchstabe an der richtigen Stelle stehen.

Ein paar Sternchen, Doppelpunkte oder ähnliches verhindern also sicher nicht das Verstehen eines Textes. Das bestätigt übrigens auch die Forschung zu dem Thema, zumal wenn die geschlechtergerechten Formen den gewohnten Formen ähnlich sind. So ist „die Polizist*innen“ nicht schwerer zu verstehen als „die Polizisten“. Komplizierter wird es bei Formulierungen wie „der*die Polizist*in“. Aber es ist ja durchaus möglich zu variieren, im Plural Sternchen zu setzen und im Singular „der Polizist oder die Polizistin“ zu schreiben.

Jungenfarbe Rosa

Noch abstruser wirkt die Sorge um den Einfluss des pinken Trikots auf die Männlichkeit oder gar die sexuelle Orientierung der deutschen Fußballspieler. Wenn pinke Kleidung Männer schwul macht – macht blaue dann heterosexuell?

Tatsächlich ist das ein schönes Beispiel, um zu zeigen, dass viele unserer Zuschreibungen zu den Geschlechtern alles andere als „natürlich“ sind. Denn: Noch vor 100 Jahren war Rosa DIE Jungenfarbe. Rosa galt nämlich als „kleines Rot“ und damit als starke, männliche Farbe.

Eine „Verschwulung“ durch das Tragen pinker Trikots ist also eher unwahrscheinlich. Auch das Argument der Textverständlichkeit für das Gender-Verbot überzeugt nicht ganz. Worum geht es also wirklich?

Zum einen soll sich für viele Menschen am liebsten einfach gar nichts verändern. Veränderung macht Angst. Das ist absolut nachvollziehbar. Im Moment sind gerade ältere Menschen mit einer unglaublichen Vielzahl an Veränderungen konfrontiert. Gesellschaftlich, kulturell, technologisch.

Allerdings: Veränderung passiert so oder so. Immer. Wie sonst ist aus Rosa eine „Mädchen-Farbe“ geworden, die es für Männer zu meiden gilt?

Nun gibt es Veränderungen, die Menschen, die sich davor ängstigen, weniger auffallen, die sie vermutlich sogar ganz gerne annehmen: Fortschritte in der Medizin zum Beispiel. Oder die weltweite Vernetzung des Handels, die uns eine fast grenzenlose Auswahl an Gütern beschert.

Und dann gibt es Veränderungen, die dieselben Menschen am liebsten rückgängig machen möchten. Weil sie sich und ihre Welt davon bedroht sehen. In diese Kategorie gehören Veränderungen, die mit der Ordnung der Geschlechter zu tun haben.

Warum das Geschlecht so wichtig erscheint

Das hat drei Gründe: Erstens ist das System der Zweigeschlechtlichkeit von grundlegender Bedeutung für unsere Gesellschaft. So gut wie alles ist auf die Vorstellung ausgerichtet, dass es Männer und Frauen gibt, dass Männer so und Frauen anders sind.

Zweitens ist dieses System extrem fragil. Und zwar genau deshalb, weil es in weiten Teilen von uns Menschen konstruiert worden ist (siehe die Zuschreibung der Farben). Kommen jetzt andere Menschen und wollen dieses Konstrukt ändern, ist klar: Das ist möglich – weil es eben nicht natur- oder gottgegeben ist. Und das macht vielen eine Heidenangst.

Drittens hängt an der traditionellen Geschlechterordnung natürlich auch eine traditionelle Machtverteilung. So fürchten insbesondere Männer um den Verlust ihrer Vormachtstellung, aber auch viele Frauen finden ihre Position in dieser Struktur angenehm.

Aber was passiert denn, wenn die traditionelle Geschlechterordnung aufgebrochen wird? Wenn man nicht mehr davon ausgehen kann, dass ein Mensch entweder ein Mann oder eine Frau ist? Wenn ein Mann nicht mehr aussieht, wie ein Mann auszusehen hat? Wenn eine Frau sich anmaßt, Kinder zu bekommen und dann die Familie zu ernähren? Was passiert dann?

Nun, das Leben ist vermutlich leichter, wenn man in klaren Grenzen denkt. Wenn man andere Menschen einer Kategorie zuordnen kann, ohne lange nachzudenken oder gar nachzufragen. Wenn man sich für seinen persönlichen Lebensentwurf nur zwischen einer begrenzten Auswahl möglicher Wege entscheiden muss.

Wenn man sich davon befreit, wird es also erstmal komplizierter, ja. Aber: Das Leben wird auch freier. Menschen, die nicht in vordefinierte Kategorien gezwängt werden, können sich individuell entfalten. Sie können aussehen, wie es ihnen gefällt, die Farben tragen, die sie mögen. Sie können sich für Dinge interessieren und Berufe ausüben, die ihnen wirklich liegen. Sie können Eltern werden oder auch nicht, eine Zeit lang zu Hause bleiben oder auch nicht. Egal, ob das zu dem Konzept passt, das die Menschheit für ihr biologisches Geschlecht entwickelt hat.

Das biologische Geschlecht bestimmt natürlich in gewissem Maße über uns Menschen. Aber eben nur in gewissem Maße. Es sagt nichts darüber aus, welche Farben ich mag, ob ich naturwissenschaftlich oder sprachlich begabt bin, ob ich mutig oder sensibel bin, ob ich mich um Kinder oder alte Eltern kümmern kann oder nicht, ob ich Führungsqualitäten habe oder nicht.

Was ich mir wünsche: mehr Freiheit

Wie viele Menschen sind unglücklich, weil sie nicht das Leben leben, das wirklich zu ihnen passt? Wie viele Männer haben sich nicht getraut, etwas soziales oder kreatives zu machen, haben sich nicht einmal den Gedanken daran zugestanden, weil es „unmännlich“ ist? Wie viele Frauen sind mit ihren Kindern zu Hause oder in Teilzeit und innerlich wütend auf ihre Männer, die sich beruflich verwirklichen (und ihr Rentenkonto füllen)? Wie viele Männer verbringen kaum Zeit mit ihren Kindern, weil sie für ihre Familien sorgen „müssen“?

Damit will ich nicht sagen, dass Frauen nicht in der Mutter- und Hausfrauenrolle aufgehen können, dass Männer nicht viel arbeiten, aber trotzdem ein gutes Verhältnis zu ihren Kindern haben können. Mit Sicherheit gibt es auch viele Menschen, die glücklich sind mit dem Weg, der ihnen aufgrund ihres Geschlechts gewissermaßen vorgegeben war.

Aber schließlich gibt es auch noch die Menschen, die selbst beim scheinbar eindeutigen biologischen Geschlecht aus dem binären Raster fallen. Menschen, deren Identität nicht mit ihrem biologischen Geschlecht übereinstimmt. Menschen, die sich mit keiner der Kategorien identifizieren können. Für diese Menschen stehen Gender-Sternchen und Co., und das macht durchaus Sinn, denn Sprache formt unser Denken.

Wenn man so tut, als gäbe es all das nicht, geht es nicht einfach weg. Durch das Verbot von Homosexualität ist diese ja auch nicht ausgestorben. Es entscheidet sich wohl niemand freiwillig für einen Lebensentwurf, für den Menschen diskriminiert und gemobbt werden. Nicht umsonst ist das Suizidrisiko bei queeren Kindern und Jugendlichen vier- bis sechsmal so hoch wie bei anderen.

Was ich mir wünsche ist mehr Freiheit für die persönliche Entwicklung jedes einzelnen Menschen. Egal, welche Geschlechtsmerkmale dieser Mensch hat, egal, welchem Geschlecht dieser Mensch sich zugehörig fühlt.