Unter dem Wellblechdach steht die Hitze des Tages. Ein graublauer Tatami – so werden die Judomatten genannt – bedeckt den größten Teil des Raumes. Am Rand der Matte stehen etliche Plastikschlappen, Kinder in weißen und blauen Kimonos, den Judoanzügen, wuseln über den weichen Boden.
Wir befinden uns im Instituto Reação, Standort Cidade de Deus, Stadt Gottes. Hier fieberten vor knapp zwei Wochen kleine und große Schüler, Eltern und Trainer zusammen vor dem Fernseher und fielen sich jubelnd in die Arme, als Rafaela Silva die erste Goldmedaille für Brasilien holte. Rafaela ist ihre Kollegin, Schülerin, Freundin.
„Ich war so glücklich, als sie gewonnen hat“, sagt Victória, „und ich bin stolz, mit einer Weltmeisterin und Olympiasiegerin zusammen zu trainieren.“ Die Achtjährige ist noch ganz außer Atem vom Toben. Seit vier Jahren kommt sie jeden Tag in die Judoschule. Rafaela hat ihr viel beigebracht, erzählt Victória. Zum Beispiel nicht aufzugeben, auch wenn man verliert. „Sie sagt immer, mach einfach weiter, und du wirst es schaffen – du musst nur dran glauben.“
Wenn man so will, ist das die Philosophie des Instituto Reação. Ex-Olympionik Flávio Canto und Geraldo Bernardes, langjähriger Trainer des brasilianischen Nationalteams, haben das Judo-Institut 2003 als NGO, als nicht staatliche Organisation, gegründet. Das Ziel: Menschen aus Armenvierteln mit Hilfe des Sports dabei helfen, ihr Leben zu verändern.
„Wir geben den Leuten eine Angel, damit sie fischen können“, erklärt Geraldo Bernardes. Der 73-Jährige ist Rafaela Silvas Trainer. Als sie mit acht Jahren zusammen mit ihrer Schwester Raquel in die Judoschule kam, sagte Bernardes zu beiden: „Eines Tages hole ich euch in die Nationalmannschaft.“
Rafaela hatte sich zu Hause und auf der Straße mit anderen Kindern geprügelt. Sie war aggressiv und besitzergreifend, erzählt Bernardes. Im Judo kanalisiert seien das hervorragende Eigenschaften. Als die 24-Jährige Gold holte, war Bernardes überglücklich: „Mein Traum ist wahr geworden. Ihr Beispiel zeigt, dass wir mit dem Sport tatsächlich Leben verändern können.“
Noch zwei weitere Beispiele beweisen das: Popole Misenga und Yolande Mabika. Die beiden Kongolesen waren von ihren Judo-Trainern wie Sklaven gehalten worden. 2013 kamen sie zur WM nach Brasilien – und blieben. 2015 holte Flávio Canto sie ans Institut. Sie bekamen ein kleines Stipendium, Kimonos, Training. Jetzt sind sie im Flüchtlingsteam bei den Olympischen Spielen angetreten. Sie kamen nicht weit – doch darum ging es auch nicht. „Ich bin sehr glücklich“, sagt Popole Misenga, der es immerhin in die zweite Runde schaffte. „Viele Menschen haben mich angefeuert, das war unglaublich.“
Zum Instituto Reação gehört neben den Judoschulen auch ein Bildungsprogramm, das sich an den verschiedenen Standorten unterschiedlich gestaltet. In der Favela Rocinha im Süden Rios arbeiten alle Judoschüler jeden Tag nach dem Training zusammen an einem Projekt. Im letzten Semester waren das die paralympischen Spiele.
Der Standort Cidade de Deus, den Bernardes führt, ist mehr auf den Sport fokussiert. Hier ist, neben der Judoschule für Kinder, auch der olympische Zweig des Instituts. Das heißt aber nicht, dass Bildung keine Rolle spielt – im Gegenteil. „Die Kombination von Sport und Bildung ist fundamental, denn das Leben als Profi-Sportler ist kurz“, sagt Bernardes. Deshalb kooperieren sie mit Universitäten. Diese nehmen Athleten auf, geben ihnen Stipendien. „Es ist wichtig, dass sie eine Ausbildung machen, für das Leben nach dem Sport“, sagt Bernardes.
Er hofft, dass die Stadtregierung die neuen Arenen nach den olympischen Spielen dazu nutzen wird, den Menschen aus Rios Armenvierteln sportliche Möglichkeiten zu bieten. Gerade in den Favelas gebe es viel Potenzial, glaubt Bernardes: „Die Kinder sind es gewohnt zu leiden. Und Leistungssport ist Leiden.“ Was fehlt, um dieses Potenzial zu entfalten, seien Schulen, Anreize, professionell ausgebildete Trainer.
Rafaelas Sieg ist jedenfalls für die Kinder aus der Cidade de Deus eine enorme Motivation: „Sie kommt vom gleichen Tatami wie wir, sie hat die gleichen Trainer“, sagt Matheus. Seit vier Jahren denkt der Elfjährige nur noch an Judo. Er will wie Rafaela eines Tages große Titel holen. „Sie hat es geschafft, also können wir alle es schaffen.“
Erschienen am 20. August 2016 auf RNZ Online