Sarah taucht fast geräuschlos unter. Sie stößt sich vom Beckenrand ab, schlägt die Beine wie ein Delfin, gleitet unter der Wasseroberfläche entlang. Sekunden später taucht sie einige Meter weiter vorne wieder auf: Zuerst die leuchtend blaue Schwimmkappe. Dann der Oberkörper, die orangefarbenen Träger des Badeanzugs. Jetzt kommen beide Arme hoch, ziehen in einem Halbkreis nach vorne, und schon taucht Sarah kopfüber wieder ab. Kurz strecken sich ihre Füße aus dem Wasser, wie die Flosse eines Fischs, dann beginnt die Bewegung wieder von vorne.

Normalerweise wäre das Sarahs zweites Training an diesem Tag. Aber heute ist Mittwoch: Da fällt die Morgeneinheit aus. Sarah Köhler ist Leistungsschwimmerin. Jura-Studentin. Und Sportsoldatin.

Ein gewöhnlicher Tag im Leben der 21-Jährigen sieht so aus: Training von 7 bis 9 und von 16 bis 19 Uhr. Mittwochs und samstags gibt es nur eine dreistündige Einheit, der Sonntag ist frei. Macht insgesamt 26 Stunden die Woche, Anfahrt und Umziehen nicht mitgerechnet.

Wenn genug Zeit ist, schläft Sarah am Mittag eine halbe Stunde. Montags ist das schwierig: Da hat sie von 11 bis 15.30 Uhr Vorlesung, dienstags von 11 bis 13 Uhr.

„Mein Trainer, Michael Spikermann, achtet darauf, dass ich nicht zu viel für die Uni mache“, sagt Sarah an diesem Mittwoch in der Kantine des Heidelberger Olympiastützpunkts (OSP) und lacht, auf ihren Wangen zeichnen sich Grübchen ab. Es ist 15 Uhr, in 50 Minuten muss sie im Kraftraum sein.

Dass die Athleten studieren, ist „absolut erwünscht“, sagt Spikermann später, während Sarah im Wasser ihre Bahnen zieht. 99,5 Prozent der Schwimmer seien Abiturienten, und: „Eine Ausbildung ist zeitlich fast nicht zu schaffen.“ Mehr als zwölf Wochenstunden dürfen sie aber nicht für die Uni aufwenden. Der OSP hat eigene Studienmentoren für seine Sportler und Kooperationsverträge mit den meisten Hochschulen in der Region.

Wie reagieren die Kommilitonen auf Sarahs Sonderstatus? „Ehrlich gesagt kenne ich niemanden an der Uni“, sagt sie und lächelt verlegen. Im ersten Semester hat sie mal eine Studienkollegin kennengelernt. „Aber nachdem ich ihr erzählt hatte, dass ich einen Sportlerquotenplatz habe, hat sie nicht mehr mit mir geredet.“ Sarah sieht auf die Tischplatte, lächelt. „Ich kann’s ja verstehen, die Leute reißen sich den Arsch auf, um in Heidelberg Jura zu studieren, und dann kommt da ein Sportler und kriegt den Platz mit einem Zweier-Abi.“ Von 300 Studienplätzen im Wintersemester werden drei an Sportler vergeben.

„Ich darf ein bisschen länger studieren“, sagt Sarah. Doch sie will sich durchkämpfen, das Studium regulär zu Ende bringen: „Wenn ich nach zehn Semestern fertig bin, habe ich einen Verbesserungsversuch.“ Das wäre 2018, zwischen Rio und Tokio. Im Sommer macht sie aber erst mal ein Urlaubssemester. Dann ist sie Vollzeit-Athletin. „Olympia ist für jeden Sportler der große Traum“, sagt Sarah. Seit dreieinhalb Jahren bereitet sie sich darauf vor – so lange ist sie jetzt in Heidelberg, bei Michael Spikermann.

Der hat sich heute Nachmittag eine besondere Mischung für seine zehn Schwimmer einfallen lassen: abwechselnd 30 Minuten „Land“ und 30 Minuten „Wasser“, drei Stunden lang. Los geht es im Kraftraum, einer großen Halle voller moderner Geräte.

Am Ende des Raums geht es eine schmale Treppe rauf auf eine Empore. Hier stehen Spinningräder, Crosstrainer, Ergometer und Laufbänder. Um Punkt 16 Uhr gibt Spikermann das Go: „Laufbänder starten und losfahren!“ Ein Summen erfüllt die Luft und schwingt sich immer mehr in die Höhe. Je lauter die Geräte werden, desto lauter reden und lachen die jungen Sportler. Der Trainer steht am Treppenabsatz, kontrolliert die Zeit, gibt Kommandos und macht auch mal Witze.

Die Gespräche werden jetzt leiser, die Gesichter angespannter. Sarah tritt in die Pedale des Ergometers. Um 16.18 Uhr wischt sie sich mit ihrem Shirt übers Gesicht, ein bunt gemusterter Badeanzug kommt darunter zum Vorschein.

Eine Viertelstunde später sind die Sportler im Wasser. Die Luft in der Schwimmhalle ist heiß und feucht. Spikermann erhebt seine Stimme, um das gleichmäßige Gurgeln des Wassers, unterbrochen vom platschenden Eintauchen der Arme, zu übertönen: „Wir haben allein in unserer Gruppe drei Sportsoldaten“, sagt er.

Ihr Dienst ist das Training. Die militärischen Pflichten beschränken sich auf regelmäßige Lehrgänge. „Das ist eine tolle Möglichkeit für so eine trainingsintensive Sportart wie Schwimmen“, findet Spikermann. Von den Sporthilfen könne man nicht leben.

Im Mai ist die Deutsche Meisterschaft, der erste Schritt auf dem Weg nach Rio: Wer sich dort qualifiziert, kann zu einem zweiten Wettkampf antreten. Letztes Jahr wurde Sarah Meisterin über 400 Meter Freistil. Wenn nichts schief geht und sie auch diesmal vorne dabei ist, tritt sie Anfang Juli bei den German Open an. „Dann sind es noch genau 28 Tage bis Olympia“, sagt sie.

Wo die Spiele stattfinden, ist für Sarah eigentlich zweitrangig. Aber: „Rio ist natürlich schon sehr schön.“ Letztes Jahr war sie mit der Nationalmannschaft dort, trainierte im Becken der Springer – das „Olympic Aquatics Stadium“, in dem die Schwimmer antreten sollen, stand da noch nicht.

Sarah schaut aus dem Fenster der Kantine: „Manchmal wünscht man sich schon ein normaleres Leben.“ Vielleicht denkt sie an ein Studentenleben mit WG-Partys, nächtlichen Gesprächen am Küchentisch und gemeinsamem Büffeln in der Bibliothek. Dann lächelt sie wieder und sagt: „Ich würde aber nicht tauschen wollen.“

Erschienen am 22. Januar 2016 auf RNZ Online

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Foto: Peter Dorn