„Wir hatten ein gutes Leben“, sagt Tima Kurdi. Ihr Bruder Muhammad arbeitete als Barbier, hatte ein eigenes Geschäft in der syrischen Hauptstadt Damaskus. Dann begann der Bürgerkrieg. In Muhammads Viertel fielen Bomben, es war 2012. Seine Schwester verfolgte die Entwicklung aus der Ferne mit Sorge. Seit mehr als 20 Jahren lebt sie in Kanada.

Eines Tages kam Muhammads ältester Sohn, damals zwölf, von der Schule nach Hause, zitterte und weinte. Sein Freund war gerade erschossen worden. Vor seinen Augen. Dann gab es ein Selbstmordattentat, in der Gegend, in der Muhammad mit seiner Frau und den fünf Kindern wohnte. „Die Jungs haben gerade Fußball gespielt, zusammen mit meinem anderen Neffen“, sagt Tima.

Sie hat das alles schon einmal ausführlich geschildert. Im Asylantrag für Kanada. Jetzt sitzt Muhammad neben ihr, im Hotel in Schwetzingen, und daneben ihr anderer Neffe, der 16-jährige Yaser. Tima ist für zwei Tage zu Besuch. Sie ist im Gespräch mit der RNZ das Verbindungsglied – nicht nur, weil sie als einzige Englisch spricht. Sie sitzt kerzengerade neben ihrem zusammengesunkenen Bruder, gestikuliert kraftvoll, während sie erzählt. Muhammad schaut ihr von der Seite dabei zu, beantwortet leise ihre Nachfragen.

In Damaskus fürchtete der 47-Jährige um die Sicherheit seiner Kinder. Muhammads Vater hatte Land in Kobane, sein Bruder Abdullah war schon länger dort. Muhammad beschloss, ihm zu folgen. Er blieb sechs, sieben Monate. Es gab kein Essen, keinen Strom, kein Wasser. Sein ältester Sohn wurde krank, brauchte medizinische Behandlung. Dann verbreitete sich das Gerücht, der Islamische Staat (IS) werde einmarschieren. Anfang 2013 brachen Muhammad und seine Familie erneut auf: nach Istanbul. Illegal.

In der Türkei fand Muhammad keine Arbeit. Die Kinder konnten nicht zur Schule gehen. Der inzwischen 13-jährige Sohn verdiente als einziger Geld. „Ich konnte nichts tun“, sagt Muhammad, „ich saß zu Hause, während mein Kind unsere Miete bezahlte.“

Im September 2014 griff der IS das Gebiet um Kobane an. Auch Abdullah floh mit seiner Frau und den beiden Söhnen, Ghalib und Alan, nach Istanbul. „Die Flucht aus der Heimat ist keine Wahl“, sagt Tima. „Wenn du um das Wohl deiner Kinder fürchtest, musst du fliehen.“

In Istanbul hatten beide Brüder Probleme. Tima wollte helfen, die Geschwister nach Kanada holen. Aber: „Finanziell ging nur einer nach dem anderen.“

Muhammads Kinder gingen seit 2012 nicht zur Schule, Abdullahs Söhne waren klein. Also zuerst Muhammad. Noch bevor sie Abdullahs Antrag stellte, kam Muhammads zurück: Das Asyl wurde abgelehnt. „Kanada wollte eine Bescheinigung, dass meine Brüder legal in die Türkei eingereist waren“, sagt die 44-Jährige. Das waren sie nicht. „Da habe ich ihnen gesagt: Vergesst Kanada.“

Muhammad entschied, nach Deutschland zu gehen. Er bekam etwas Geld von seinem Vater. Abdullah musste warten, bis er genug für die Flucht zusammenhatte. Er wollte seine Familie mitnehmen. Muhammad machte sich alleine auf den Weg. Von Istanbul nach Izmir, ein Bus brachte ihn nach Bodrum.

Ab hier muss Tima immer wieder nachfragen. Muhammad erzählt jetzt mehr und mehr, mit leiser, gebrochener Stimme, seine Schwester übersetzt.

Von Bodrum aus nahm er ein Boot. 1000 Euro zahlte er einem Schlepper, die Überfahrt nach Griechenland dauerte dreieinhalb Stunden. Wohin genau, weiß Muhammad nicht mehr. Nur noch, dass er erst einmal fünf Tage in einem Flüchtlingscamp verbrachte.

Teilweise im Auto, teilweise zu Fuß ging es weiter nach Mazedonien. Er bezahlte 1200 Euro, um mit dem Auto nach Serbien zu kommen, anstatt fünf Tage zu laufen. Zu Fuß und mit dem Bus erreichte Muhammad Ungarn, bevor die Grenze zugemacht wurde, kam über Budapest nach Österreich. Allein auf dem Festland dauerte die Flucht 18 bis 20 Tage. Genau kann er das nicht mehr sagen.

Im Juni war Muhammad endlich da. In Deutschland. Er erinnert sich an die Namen der Städte, in die er gebracht wurde, schaut erstmals im Gespräch die Interviewerinnen an und nicht seine Schwester: „Hockenheim. Karlsruhe. Heidelberg“, sagt er.

Abdullah wollte nachkommen. Er bat sein Schwester um Hilfe. „Hätte ich gewusst, wie gefährlich das Meer ist, hätte ich ihn niemals unterstützt“, sagt Tima und schaut auf den Tisch.

Nach dem Tod seiner Frau und seiner beiden Söhne kehrte Abdullah nach Syrien zurück.

Zu dem Zeitpunkt war sein Neffe Yaser bereits aufgebrochen. Der 16-Jährige hat es geschafft. Alleine. Von der Türkei nach Kos, durch Mazedonien und Serbien, den ganzen Weg bis nach Ungarn. Zu Fuß. Er erzählt auf Arabisch, lebhafter als Muhammad, leichter.

„In Ungarn haben die Polizisten gelacht und ,Willkommen, willkommen’ gerufen“, übersetzt Tima. „Dann brachten sie uns in eine Art Gefängnis im Wald, eingezäunt, als wären wir Tiere.“ Er sollte in ein anderes Camp kommen, doch Yaser wollte weiter zu seinem Onkel. Er hatte Glück: Eine Gruppe Engländer nahm ihn und ein paar weitere Flüchtlinge mit nach Österreich, gab ihnen zu essen, ließ sie duschen und schlafen.

Am nächsten Morgen kauften die Engländer ihnen Tickets nach München. Von dort rief Yaser seinen Onkel an, wurde nach Heidelberg gebracht – sechs Tage vor dem Gespräch mit der RNZ.

Muhammad ist inzwischen seit drei Monaten in Patrick Henry Village (PHV). Seine Frau und seine Kinder sind noch in Istanbul, sein Vater ist in Damaskus, genau wie Yasers Mutter. „Niemand hat mich bislang gefragt, ob ich Familie habe“, sagt Muhammad. Was mit ihm passiert, weiß er auch nicht.

Die Frage, wohin er gehen möchte, beantwortet er schnell und mit fester Stimme: „Überall hin, wo ich mit meiner Familie zusammen in Sicherheit sein kann.“ Tima will noch einmal versuchen, ihn nach Kanada holen.

„Wenn das nicht klappt: Deutschland ist wundervoll“, sagt sie. Muhammad möchte wieder als Barbier arbeiten. Seine Schwester hat ihm schon einmal eine Schere und einen Kamm gekauft.

Muhammad_Kurdi_Fluchtroute

Grafik: Peh & Schefcik

Erschienen am 24. September 2015 auf RNZ Online

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