Brasilien gehörte die Zukunft. Die Wirtschaft florierte, die Armut nahm ab, so lesen sich die 2000er-Jahre. Doch dann kamen die Krise, die Amtsenthebung Dilma Rousseffs. Ihr Nachfolger Michel Temer hat vergangenen Herbst einen liberal-konservativen Kurs eingeschlagen. Die meisten seiner ausschließlich weißen, männlichen Minister sind in Korruptionsskandale verstrickt, Temer selbst auch. Die brasilianische Kolumnistin Eliane Brum ist pessimistisch: „Die Zukunft von heute ist eine Anti-Utopie.“

Sie glaubt, um die Gegenwart zu verstehen, müssen wir uns die Vergangenheit anschauen – aber auch unsere Vorstellung von der Zukunft. Wir haben junge Brasilianer gefragt, was sich in den letzten Jahren verändert hat, mit welchen Problemen ihr Land kämpft und wovon sie träumen.

Lídia Vanini arbeitet als Sozialhelferin in Nova Iguaçu. Die 30-Jährige sagt: „Die Zahl bedürftiger Menschen ist zurückgegangen.“ Präsident Inácio Lula da Silva schuf 2005 das erste öffentliche Sozialsystem Brasiliens. Einer Studie der Weltbank zufolge sank die extreme Armut im Land zwischen 2001 und 2013 von 14 auf fünf Prozent.

Lídia Vanini

Lídia Vanini

„Die Arbeiterpartei hat auch viel für Schwarze gemacht“, sagt William Reis (siehe Titelbild). Seit 2012 gibt es eine Uni-Quote für Dunkelhäutige. Laut Uno sind das in Brasilien 71 Prozent der extrem Armen. William ist in einer Favela aufgewachsen, hat Sport studiert. Heute lebt der 31-Jährige in einem Mittelklasse-Viertel Rio de Janeiros und ist Projektkoordinator der Kulturgruppe Afroreggae. „Andererseits sterben immer mehr schwarze Jungs in den Favelas.“

Fast 60.000 Morde brachten Brasilien 2014 an die Weltspitze dieser Statistik. Die Zahl der weißen Opfer ist in den letzten Jahren gesunken, die der nicht-weißen gestiegen. Amnesty International spricht von einem Genozid: Die meisten Mordopfer sind männlich, jung – und zu 70 Prozent dunkelhäutig.

Anstatt zur Lösung des Problems beizutragen, entwickelt sich die Polizei zunehmend zu einem seiner Hauptakteure. Pro Tag sterben in Brasilien neun Menschen durch Polizeiwaffen und mindestens ein Beamter. „Die Ausbildung unseres Sicherheitsapparats ist auf Krieg ausgerichtet“, sagt Atila Roque, ehemaliger Direktor von Amnesty International Brasilien. „Seit der Sklaverei ist unsere Gesellschaft geprägt von Gewalt, Rassismus und sozialer Ungleichheit.“

Nach dem Ende der Sklaverei 1888 förderte die Regierung die Einwanderung von Europäern, um die Arbeitskraft der Sklaven zu ersetzen – und um die brasilianische Gesellschaft aufzuhellen. „Die einzigen Schwarzen, die ihre Jobs nicht verloren, waren die weiblichen Hausangestellten“, sagt William. Bis heute wurde das Thema nicht aufgearbeitet. Die Schule müsse hierbei eine Schlüsselrolle übernehmen, findet er. Doch gerade im Bildungssystem liegt in Brasilien einiges im Argen. Viele öffentliche Schulen sind so schlecht, dass die Kinder nicht richtig Lesen und Schreiben lernen. Eine Privatschule können sich viele Familien nicht leisten. „Die Leute kommen gar nicht zur Uni-Quote“, sagt William.

Ein Grund für die schlechte Qualität der öffentlichen Dienstleistungen ist Korruption. Nur ein Teil der Gelder kommt in Schulen oder Krankenhäusern an. Lídia erfährt das gerade am eigenen Leib: Seit November 2016 erhalten die Angestellten der Stadt Nova Iguaçu keinen Lohn. Auf der Webseite der Kommune ist zu lesen, dass die Gelder eingegangen sind. Und dass sie ausbezahlt wurden. Nur haben Lídia und ihre Kollegen das Geld nie gesehen.

Der brasilianische Autor Luiz Ruffato schreibt, diese Mentalität gehe auf die Kolonialisierung zurück – und habe sich in die DNA der Landeskultur eingebrannt. Was zählt, ist das Hier und Jetzt; die großen Verbrechen rechtfertigen die kleinen.

Lílis Soares

Lílis Soares

So bleibt die soziale Ungleichheit eines der größten Probleme Brasiliens. Die Zahl der Menschen, die in Favelas wohnen, ist seit Jahren unverändert. Die Lebensbedingungen dort sind prekär, sagt Luiz Cesar de Queiroz Ribeiro, Soziologe und Koordinator der Forschungsgruppe „Observatorium der Metropolen“. (siehe Hintergrund)

Das einzige, was Luiz Cesar Hoffnung macht, ist das Engagement der Jugend. Was im Juni 2013 als Widerstand gegen eine Erhöhung der Buspreise begann, wuchs sich bald zu den größten Protesten seit dem Ende der Militärdiktatur 1985 aus. Die brutalen Reaktionen der Polizei befeuerten sie nur. Die Jugendlichen organisierten sich über soziale Netzwerke, protestierten gegen Missstände in der Gesellschaft. Seither füllen sich die Straßen der Städte immer wieder mit Demonstranten.

Auch in den Favelas sind viele Jugendgruppen entstanden. Afroreggae zum Beispiel arbeitet mit der Kultur aus den Favelas – Trommeln, Tanz, Graffiti -, aber auch mit klassischer Musik oder Ballett. „Wir zeigen den jungen Leuten, dass es andere Lebenswege gibt als die Drogen, und geben ihnen Selbstwertgefühl“, sagt William.

Nicht nur die Afrobrasilianer kämpfen inzwischen erfolgreich für mehr Sichtbarkeit und Rechte, auch die Lesben und Schwulen, sagt Kulturproduzentin Lílis Soares: „Vor zehn Jahren hätte ich mich nicht geoutet.“ Was sie an der Schwarzenbewegung stört, ist die Identifikation mit Afrika: „Meine Gene sind afrikanisch, europäisch und indigen. Ich bin eine typische, dunkelhäutige Brasilianerin. Wir sind immer noch weit davon entfernt zu verstehen, was das heißt.“ Die 30-Jährige arbeitet daher an einem Dokumentarfilm über schwarze Brasilianerinnen.

Was aber bedeutet die neue Regierung für die sozialen Fortschritte im Land? Der 17-jährige Flávio Valle engagiert sich in der liberalen „Bewegung Freies Brasilien“, das für Dilma Rousseffs Amtsenthebung auf die Straße ging. Er sagt: „Ohne die Notfalllösungen Michel Temers wäre das Land kollabiert.“

Zu den Lösungen gehört eine Verfassungsänderung, die die Staatsausgaben in Gesundheit, Bildung und Soziales für bis zu 20 Jahre einfriert. Die Folgen werden vor allem die Armen spüren. Luiz Ruffato ist überzeugt, dass das gewollt ist: Die Mittel- und Oberschicht hat kein Interesse daran, den Armen ein besseres Leben zu ermöglichen – schon gar nicht von ihren Steuergeldern. Sie wolle ihre Hausangestellten behalten.

Flávio Valle

Flávio Valle

„Die Aussichten sind schlecht“, sagt auch Lídia. Die Regierung wird weniger in die Sozialprogramme investieren, die Armut wird wieder wachsen. Auch William hat wenig Hoffnung. Seine Träume sind bescheiden: heiraten, Kinder bekommen, Englisch lernen. Was er sich für die Zukunft seiner Kinder erhofft? „Genug Geld, damit ich sie auf eine Privatschule schicken kann.“

Flávios Traum ist es, Präsident zu werden – und allen Brasilianern eine gute Bildung zu ermöglichen. Seiner Meinung nach sollte die Regierung armen Menschen Stipendien für Privatschulen geben, anstatt in das öffentliche Schulsystem zu investieren.

Lídia wünscht sich eine Regierung, die auf die Bevölkerung schaut, und bessere Strukturen für ihre Arbeit. Sie hofft, dass Lula bei der nächsten Wahl zurückkommt. Das glaubt Lílis nicht: „Wir werden noch eine Weile im Limbus bleiben.“ Sie setzt auf die übernächste Wahl, denn langfristig könne sich das Land so nicht erhalten.

Luiz Cesar denkt, dass die Jugend einen entscheidenden Teil zum künftigen Wandel beitragen wird. „Es ist kein Zufall, dass in den letzten Jahren mehr über die Urbanisierung der Favelas gesprochen wurde. Die Politik kann die Stimmen der Bürger nicht ignorieren.“

Die meisten großen Veränderungen haben irgendwann als Auflehnung gegen die bestehende Ordnung begonnen: das Wahlrecht für Frauen, die Gleichberechtigung der Schwarzen in den Vereinigten Staaten, die Aufhebung der Apartheid in Südafrika. Vielleicht ist es also doch möglich, die Zukunft Brasiliens als Utopie zu sehen.

HINTERGRUND 
Mit 70.000 Bewohnern ist die „Rocinha“ in Rio de Janeiro Brasiliens größte Favela. Insgesamt leben 25 Prozent der Stadtbevölkerung in Favelas, viele inmitten der reichsten Viertel. In den letzten Jahren sind öffentliche Dienstleistungen wie die Müllabfuhr in Brasiliens Elendsvierteln besser geworden, nicht aber die sanitären Bedingungen. „Das Wohnen in einer Favela bleibt prekär“, sagt Soziologe Luiz Cesar de Queiroz Ribeiro, „und die Politik hat kein Interesse daran, das zu ändern.“ Im Gegenteil: Die Entwicklung moderner, kapitalistischer Städte löst die Mischung von Arm und Reich auf. Im touristischen Süden Rios wurden die Favelas mit den Megaevents gentrifiziert. Konsequenz: Arme müssen in die Peripherie ziehen, wo sie noch weniger Zugang zu Arbeit und Bildung haben.

Erschienen am 4. Februar 2017 auf RNZ Online

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