10 Uhr morgens in São Paulo. In Deutschland ist es 15 Uhr, wir haben uns mit Bega Tesch zum Skype-Gespräch verabredet. Zum dritten Mal ist die Heidelberger Studentin im größten Land Lateinamerikas: Vor sieben Jahren verbrachte sie das elfte Schuljahr in Palmas, im Bundesstaat Tocantins; nach dem Abitur reiste sie erneut für einen Monat nach Brasilien, und seit Juli letzten Jahres studiert die 23-Jährige für zwei Semester an der Universidade de São Paulo „Letras“, Sprach- und Literaturwissenschaft.

„Ich liebe dieses Land, aber es gibt eine Menge Defizite“, erklärt Bega: Vielen Menschen fehlten grundlegende Dinge wie Wasser und Strom; als sie selbst einmal ins Krankenhaus musste, hätten die Leute dort stundenlang gewartet. Kinder könnten nicht zur Schule gehen, und schlimmer noch, viele würde Hunger leiden – „da fällt es nicht schwer nachzuvollziehen, warum die meisten meiner brasilianischen Bekannten gegen die WM sind.“ Öffentliche Gelder würden in das Megaevent gesteckt, zum Beispiel in neue Stadien, und niemand wisse, was später damit geschehe. Für das Gros der Bevölkerung biete die Meisterschaft keinerlei Vorteile.

In den Wochen vor dem Startschuss habe es jeden Tag irgendwo in São Paulo Proteste gegeben, erzählt die Austauschstudentin. Sie selber war nie dabei, aus Angst. „Man hört, dass viel Polizei dort ist und zum Teil brutal gegen Demonstranten vorgeht.“ Die Protestbewegung hat sich in ganz Brasilien formiert und vernetzt, etwa über Facebook. Das Motto lautete lange: „Não vai ter copa“, es wird keine WM geben.

Vor einigen Wochen sei sie beim Stadion im Osten São Paulos gewesen, erzählt Bega. „An allen Ecken und Enden wurde noch gebaut.“ Dort, wo die Straßen zum Stadion hin verbreitert würden, hätte es vorher Favelas gegeben, Armensiedlungen. Den Menschen seien Notunterkünfte versprochen worden, ein Teil von ihnen lebe jetzt auf der Straße, kritisiert die Studentin. „Und in Salvador entsteht mit dem ,Campo Bahia‘ eine luxuriöse Unterkunft für die deutsche Mannschaft.“ Das sei nicht gerecht.

Kurz, bevor die Meisterschaft losgeht, hat Bega einen leichten Umschwung beobachtet: „Manche sagen jetzt, ,vai ter copa‘, die WM kommt. Es ist nicht mehr zu verhindern, also machen wir das Beste draus.“ In den U-Bahnen seien inzwischen Schilder auf Englisch angebracht worden, die auf Public-Viewing-Orte hinweisen oder auf ein „Fifa Fan-Fest“.

Von Vorfreude sei bei den meisten aber wenig zu spüren. Bega möchte dennoch ein paar Spiele anschauen, wahrscheinlich zusammen mit anderen deutschen Austauschstudenten. Ob ihre brasilianischen Freunde „Rudelgucken“ gehen, weiß sie nicht. Ein bisschen Angst habe sie allerdings schon. In der Facebook-Gruppe seien auch während der WM Proteste geplant, wer weiß, ob es nicht zu Ausschreitungen komme.

„Meiner Meinung nach ist das Land nicht bereit für die Weltmeisterschaft“, sagt Bega. Vor zwei Wochen habe es in São Paulo einen Busstreik gegeben. Ein, zwei Tage lang herrschte „totales Chaos“. In der Rush Hour seien die U-Bahnen ohnehin stets überfüllt. Zudem gebe es in den großen Städten viel Kriminalität. Bega empfiehlt Touristen daher, so wenige Wertgegenstände wie möglich mitzunehmen und diese „nicht ständig in der Hand zu haben“.

Man solle sich an Orten aufhalten, wo viele Menschen sind, am besten in Gruppen unterwegs sein und vor allem im Dunkeln aufpassen. „Nehmt besser ein Taxi, statt einen Überfall zu riskieren!“ Und: Nicht die Geduld verlieren, wenn es im öffentlichen Nahverkehr mal nicht ganz rund läuft oder Sprachbarrieren auftauchen. Viele Brasilianer sprechen kein Englisch, seien aber offen und hilfsbereit, sodass die Kommunikation „mit Händen und Füßen“ klappen sollte.

Trotz aller Widrigkeiten sei Brasilien ein wunderschönes und faszinierendes Land, das sich zu besuchen mehr als lohne, auch außerhalb der WM. Wenige Tage nach unserem Gespräch, als wir Bega um ein Foto bitten wollen, erreichen wir sie per Mail: „Ich reise gerade durchs Land, melde mich, wenn ich zurück bin!“

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Erschienen am 12. Juni 2014 auf RNZ Online