Wenn man Nikolai Kornhaß fragt, ist er ein ganz normaler junger Mann. Ein 23-Jähriger, der damit hadert, dass er sein Studium die letzten zwei Semester vernachlässigt hat. Der gerne reist und Fahrrad fährt und dem soziale Kontakte extrem wichtig sind. Wenn er eine Sonnenbrille aufhat, merkt man ihm nicht an, was ihn von anderen jungen Männern unterscheidet: Nikolai hat eine Sehbehinderung. Was ihn noch von anderen jungen Männern unterscheidet: Vor einer knappen Woche hat er eine Bronze-Medaille bei den Paralympicsgewonnen. Im Blinden- und Sehbehinderten-Judo.

Wir treffen uns drei Tage nach seinem Überraschungserfolg im Paralympischen Dorf in Rio de Janeiro. Die Sonne knallt vom Himmel. Nikolai trägt ein orangefarbenes „Germany“-T-Shirtund eine dunkle Brille, hält zur Begrüßung die Hand hin, bewegt sich ganz normal zu einer Bank im Schatten. Lehnt sich entspannt zurück, zieht einen Holzhocker heran und legt die Füße hoch. Erst, als er die Brille abnimmt, fällt auf, dass er an seinem Gesprächspartner vorbeischaut.

Als Kind ganz normale Sehkraft

Nikolai hat eine Makula-Degeneration. Bei dieser Erbkrankheit sterben im Sehzentrum, also da, wo man scharf sieht, nach und nach die Sehzellen ab. Er nehme alles wahr, aber sehr verschwommen, sagt Nikolai. Nur aus dem Augenwinkel sehe er so wie jeder andere. Zwei Dinge sind für ihn sehr schwierig: Lesen und Menschen erkennen: „Ich sehe jetzt, dass da jemand vorbeiläuft, aber der könnte den Kopf meines Vaters aufhaben und ich würde ihn nicht erkennen.“

Als Kind hat Nikolai einmal ganz normal gesehen. In der Grundschule merkte er irgendwann, dass er die Tafel nicht richtig lesen konnte. Nichts Ungewöhnliches im Alter von acht, neun Jahren. Aber im Unterschied zu anderen Kindern half Nikolai keine Brille. „Für meine Eltern war die Diagnose, glaube ich, schlimmer als für mich“, sagt er. Seine fünf Jahre ältere Schwester hat die gleiche Krankheit. „Ich habe damals gesagt: Katinka hat das auch, also kann es nicht so schlimm sein. Für mich war sie ja ganz normal.“

Dadurch, dass die Krankheit langsam voranschreite, arrangiere man sich mit dem immer schlechteren Sehen, sagt Nikolai. „Es schränkt mich schon ein. Ich will manchmal nicht wahrhaben, wie sehr“, sagt er. Und einen Moment später: „Ich komme gut zurecht.“ Nikolaikann sich ganz normal bewegen, sogar Fahrrad fahren, wenn er sich konzentriert. Er fährt mit dem Rad von seinem Wohnheim in Schriesheim über die Felder zur Pädagogischen Hochschule (PH) in Heidelberg-Neuenheim, wo er Sonderpädagogik studiert. Reist mit seinen Freunden, zum Beispiel über den Balkan. Fährt Ski – „am liebsten in Gebieten, die ich kenne, und am liebsten hinter meinem Vater her“. Nach dem Abitur war Nikolai ein Jahr in der Slowakei, Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) an einer Deutschen Schule.

Über die Krankheit reden oder nicht?

„Ich sehe mich nicht als behindert. Ich sehe halt schlecht“, sagt Nikolai: „Es war mir auch lange sehr unrecht, das überhaupt zu kommunizieren.“ Seine Schwester gehe viel offener damit um. Eigentlich würde er das auch gerne. Er streift die Flipflops ab, streicht mit den Füßen den Sand glatt. „Aber ich stelle mich ja nicht vor:

Hallo, ich bin der Niki und ich sehe schlecht.“

Andererseits macht ihm zu schaffen, was passiert, wenn er nicht sagt, dass er schlecht sieht. Wenn er einen neuen Menschen kennenlernt und der ihn für arrogant hält, weil er an ihm vorbeischaut. Oder weil Nikolai ihn bei der nächsten Begegnung nicht erkennt. Er ist gerne mit Menschen zusammen. „Diese Einschränkung in der Interaktion stört mich mehr, als dass ich manche Sachen nicht lesen kann“, sagt Nikolai. Fürs Lesen hat er Hilfsmittel: elektronische Lupen, Bildschirm-Lesegeräte, Vergrößerungssoftware.

Im Supermarkt kauft er das, was er kennt. Und wenn er mal Lust auf was Neues hat, schaut er danach mit der Lupe auf dem Kassenzettel, wie viel es gekostet hat. Seine Schwester schnappe sich immer gleich einen Kassierer und lasse sich zu den Regalen führen, sagt Nikolai. „Ich finde schon, was ich suche, und wenn es gar nicht geht, frage ich halt.“

Auch im Sport zwischen den Welten

Auch im Sport lebt er ein bisschen zwischen den Welten. Fürs 1. JudoteamHeidelberg/Mannheim kämpft er gegen nicht behinderte Judoka. Das sei durchaus üblich und gehe auch ganz gut, sagt Nikolai. Mit zehn, elf Jahren hat er den Kampfsport im Turnverein Gundelfingen angefangen.

Dass es Judo speziell für Sehbehinderte gibt, erfuhr er erst relativ spät. Das liege zum einen daran, dass es einfach nicht so viele Sportler in diesem Bereich gebe. Aber: „Es ist schon seltsam, dass beide Bundestrainer in Heidelberg sitzen und ich nichts

davon mitbekommen habe, obwohl ich jahrelang in Baden Judo gemacht habe.“ Der Behindertensportverband hat nicht die beste Informationspolitik, glaubt Nikolai. So kam nicht in seinem Verein an, dass es Judo für Sehbehinderte gibt. Gleichzeitig drang nicht zu den Bundestrainern vor, dass er sehbehindert ist: „Wenn ich auf Wettkämpfen war, habe ich ja nicht gesagt: ,Hallo, ich bin der sehbehinderte Judoka, ihr müsst Rücksicht auf mich nehmen.’ Ich habe einfach ganz normal mitgemacht.“

2011 trat Nikolai dann zum ersten Mal bei der Deutschen Meisterschaft für Blinde und Sehbehinderte an. Der größte Unterschied zum regulären Judo ist, dass die Partner sich greifen müssen, bevor sie anfangen. „Da spielt sich schon ganz viel ab, bevor der Kampf frei gegeben wird“, sagt Nikolai und lacht. Offiziell hätten beide die gleiche Ausgangslage, aber man versuche immer, sich im Rahmen des Erlaubten minimale Vorteile zu verschaffen. Eine kleine Änderung der Armhaltung könne schon einen Unterschied machen. Im Kampf gehe dann viel übers Gefühl.

Den Gegner im Griff haben

Der Körper reagiere automatisiert auf Reize, so, wie er es im Training lerne. Dass Nikolainicht gut sieht, schränke ihn nur manchmal ein, wenn er bei den Nichtbehinderten kämpfe.

Im Griffkampf, also wenn man den Partner an der Jacke fasst, ist es sehr wichtig, als erster den besten Griff zu haben. „Ich sehe die Jacke, aber ich greife manchmal einen Tick daneben“, sagt Nikolai.

Nach dem FSJ entschied er, ein Lehramtsstudium in Heidelberg zu beginnen – und am Olympiastützpunkt Rhein-Neckar zu trainieren. Das Ziel: die Paralympics Rio 2016. Er hat sein Ziel erreicht. Im Kampf um Platz drei gewann Nikolai in der Klasse bis 73 Kilogramm gegen den Japaner Aramitsu Kitazono mit Ippon. Das ist im Judo die höchste Wertung, die einen Kampf vorzeitig beendet. Vor zwei Jahren hatte er den Gegner schon einmal besiegt, bei den Weltmeisterschaften. Insofern war er nach dem Sieg erleichtert und froh: „Ich hätte mich wahnsinnig geärgert, wenn ich gegen ihn verloren hätte.“

Vom Sport leben? Wohl unmöglich!

Was das nächste Ziel ist, kann Nikolai jetzt noch nicht sagen. Auf jeden Fall will er die nächsten ein, zwei Semester seinen Fokus aufs Studium legen. Vor einem Jahr hat er von der Uni Heidelberg an die PH gewechselt. Das Gymnasiallehramts-Studium, Mathe und Geografie, sei neben dem Sport schwierig gewesen: „Hätte ich unbedingt gewollt, hätte ich es wohl geschafft. Aber es hat mir keinen Spaß gemacht.“

An der Sonderpädagogik gefällt ihm, dass die Schülerbetreuung viel individueller ist. Allerdings war Nikolai in seinem ersten Studienjahr nicht allzu viel an der PH: In jedem der beiden Semester hatte er um die vier Wochen Trainingslager. Das Studium im Alltag mit dem Training zu vereinbaren, sei kein Problem, aber die lange Abwesenheit durch Trainingslagerund Wettkämpfe aufzuholen, findet Nikolai schwierig.

Über die Frage, ob er sich mehr als Sportler oder als Student sieht, muss er eine Weile nachdenken. „Dieses Jahr habe ich mich tatsächlich eher als Sportler definiert, der auch noch eingeschrieben ist. Davor eher als Student.“ Das soll sich jetzt wieder ändern.

Nikolai will Lehrer werden

In zehn Jahren hofft Nikolai, als Lehrer an einer Schule zu arbeiten. Judo mache er dann sicher auch noch, aber nicht mehr auf Leistungssportniveau. Dann könne er sich zum Beispiel das lästige Krafttraining sparen, sagt er und grinst.

Abgesehen davon, dass er sich ein Leben nur mit Sport nicht vorstellen kann, ist das auch finanziell nicht denkbar. Nikolai bekommt zwar Geld aus drei Fördertöpfen. Dieses Jahr war das aber insgesamt noch unter Bafög-Niveau, also weniger als 735 Euro: „Als Student kann man davon leben, aber wenn man ein bisschen mehr Ansprüche hat, wird es schwierig.“

Erschienen am 16. September 2016 auf RNZ Online