Eigentlich wissen die Brasilianer, wie man Feste feiert. Die eher miese Stimmung kurz vor Olympia ist untypisch. Doch sie kommt nicht von ungefähr. Das Land steckt in einer tiefen Krise, die Arbeitslosigkeit ist hoch, der Bundesstaat Rio de Janeiro pleite. Einer Umfrage des Forschungsinstituts Datafolha zufolge glauben 63 Prozent der Brasilianer, dass ihnen das Megaevent mehr schaden als nutzen wird. Wir haben einige „Cariocas“ gefragt, was sie von den Spielen in ihrer Heimatstadt halten.

Natália da Silva hat nichts gegen Olympia. Sie mag Sport. Aber die 29-Jährige hat am eigenen Leib erfahren, was das Megaevent mit ihrer Stadt macht. Natália lebt in der Favela Vila Autódromo – gleich neben dem Olympiapark. Die Präfektur hat im Vorfeld der Spiele mit allen Mitteln versucht, das Viertel zu entfernen. Die Bewohner hatten legale Besitztitel, doch die Stadt sei mit Dekreten, psychischem Druck und sogar Gewalt dagegen angegangen, erzählt Natália.

Von über 700 Familien, die hier lebten, haben 20 bis zum Schluss Widerstand geleistet. Darunter die Kunststudentin, ihre Eltern und ihre Oma. Die Stadt hat ihnen nun notgedrungen kleine Häuschen gebaut, gleich neben dem Parkplatz beim olympischen Pressezentrum. Von den unverputzten, roten Ziegelsteinbauten sollte bis zum Beginn der Spiele keine Spur bleiben.

Angeblich war die Favela dem Olympiapark im Weg. Die Gemeinschaft hatte der Präfektur daraufhin einen Plan vorgelegt, den sie zusammen mit einer Forschergruppe entwickelt hatte. Demnach hätte die Vila Autódromo urbanisiert und in den Olympiapark integriert werden können. Das Konzept war deutlich billiger als die Räumung der Favela.

„Das zeigt, dass die Stadt die Spiele nur als Vorwand benutzt hat“, sagt Natália. In Wirklichkeit gehe es darum, das Grundstück dem Immobilienmarkt zuzuspielen. Als Gegenleistung für die Finanzierung so mancher Wahlkampagnen. Wo Natália aufgewachsen ist, soll ein Luxusviertel entstehen. „Arme haben da keinen Platz“, sagt sie trocken. Die „neue Welt“, die der olympische Slogan verspricht, ist keine Welt für alle.

Von diesen Problemen bekommen Yulia Timofeeva und ihr Mann Carlos Guilherme Suarez Farina Teles da Silva nicht viel mit. Die beiden haben eine schöne Wohnung in Botafogo und ein gutes Einkommen, sie als Fotografin, er als Neurologe. Carlos Guilherme sieht die Spiele in seiner Heimatstadt dennoch kritisch: „Rio de Janeiro hat nicht die Voraussetzungen dafür, ein solches Megaevent auszurichten“, sagt der 35-Jährige.

Einige Wettkämpfe wird er trotzdem besuchen. Seiner Frau zuliebe. Die Russin lebt seit vier Jahren in Brasilien und freut sich riesig auf die Spiele: „Ich bin in Rio, Olympia ist hier – da muss ich dabei sein!“ Die 32-Jährige hat Karten für die Endausscheidungen im Duett-Synchronschwimmen, Frauen-Volleyball und Mountainbike, in der Hoffnung, Athleten ihrer Heimat anfeuern zu können.

Dass die russischen Leichtathleten nicht nach Rio kommen dürfen, findet Yulia schade. Natürlich müssten die ausgeschlossen werden, denen Doping nachgewiesen wurde, aber man müsse ja nicht alle bestrafen.

Das Judo-Finale war der einzige Wettkampf, den Carlos Guilherme gerne sehen wollte. Aber nicht einmal darauf freut er sich jetzt, kurz bevor die Spiele starten. „Rio hätte sich nie bewerben dürfen“, sagt er. Viel zu groß seien die Sicherheitsprobleme, das tägliche Verkehrschaos, die finanzielle Notlage im Land.

Schon im Vorfeld wurden internationale Athleten und deutsche Medien beraubt. Carlos Guilherme fragt sich, wie das erst während der Spiele werden soll, wenn die Stadt voller Touristen ist. Egal, wie viele Sicherheitsleute in Rio unterwegs seien: Die Überfälle ließen sich nicht kontrollieren.

Yulia ist diesbezüglich optimistischer. Doch auch sie übt Kritik an der Politik: „Wenn die Polizisten und Soldaten Ende September abziehen, ist in Rio wieder alles beim Alten.“ Ihrer Meinung nach hat die Stadt die Chance versäumt, ihr größtes Problem nachhaltig zu lösen, anstatt es für die Dauer der Spiele zu kaschieren.

Nicht nur in Bezug auf die Sicherheit handelt die Präfektur kurzfristig: „Dass wir im August Schulferien verordnet bekommen, um weniger Verkehr in den Straßen zu haben, ist ein Witz“, sagt Carlos Guilherme. In den öffentlichen Krankenhäusern fehle es seit Monaten an Ausrüstung. Wie brasilianische Medien enthüllten, wurden diese zum Teil für Olympia zurückgehalten. Kliniken cancelten OP-Termine im August und September, um während der Spiele (be)handlungsfähig zu bleiben.

„Ich habe nichts gegen die Wettkämpfe“, sagt Carlos Guilherme, „aber es kann nicht sein, dass das Leben in der Stadt angehalten werden muss, damit Olympia läuft.“ Rio de Janeiro unter normalen Bedingungen sei eben nicht in der Lage, die Spiele abzuhalten.

Die meisten Cariocas sehen diese Unfähigkeit der Stadt. Diógenes do Nascimento sagt: „Die Regierung tut so, als habe sie alles unter Kontrolle, aber das ist ein schlechter Witz.“ Der 58-Jährige hat einen kleinen Kiosk an der Metrostation Botafogo. Seit Jahren verkauft er hier Brasilien- und Rio-Souvenirs.

Lange lebte er in Copacabana, aber mit der Krise und den Megaevents der vergangenen Jahre explodierten die Mieten und die Lebenshaltungskosten. Jetzt hat er ein kleines Apartment in Campo Grande, weit draußen im Osten der Stadt.

Doch Diógenes ist ein pragmatischer Mann: „Dass Olympia stattfindet, können wir jetzt nicht mehr ändern, also sollten wir es ausnutzen.“ Als Geschäftsmann sieht er die Vorteile für sich. Touristen aus dem In- und Ausland kämen in Ferienstimmung hierher, und das bedeute, dass sie Geld ausgäben. Er profitiere immer von den Events in der Stadt. Olympia sei für ihn daher eine gute Gelegenheit, Geld zu verdienen.

Nur eins macht Diógenes Sorgen: das internationale Ansehen seines Landes. Er fürchtet, dass die zahlreichen Probleme in der Olympiavorbereitung das Image zerstören, dass sich die Brasilianer erarbeitet haben: „Wir sind ein gastfreundliches und herzliches Volk, aber durch die ganze negative Presse schaut die Welt nur noch auf die schlechte Arbeit unserer Regierung.“

Alan de Lima wünschte, dass auch die Cariocas ihren Blick darauf richten würden: „Sie schieben die Schuld für alles, was schiefläuft, auf die Olympischen Spiele“, sagt der 35-Jährige. Schuld seien aber die Politiker, die das Land auf allen Ebenen schlecht verwalteten – und das Volk selber, das ebendiese Politiker wähle und sich darüber hinaus nicht beteilige.

Alans Meinung zu Olympia ist klar: „Die Spiele sind eine einzigartige Chance, und es ist fantastisch, dass sie zum ersten Mal in Südamerika stattfinden.“ Als Personal Trainer sieht er vor allem die sportlichen Möglichkeiten, die das Event der Stadt und dem ganzen Land eröffne.

Der Olympiapark habe eine grandiose Infrastruktur für diverse Sportarten geschaffen, die Rio nach den Spielen erhalten bleibe. Und Athleten anderer Disziplinen „zu Hause“ Erfolge erzielen zu sehen, werde die Sicht der Menschen verändern. Alan glaubt, dass das an der Monopolstellung kratzen wird, die der Fußball im Land innehat.

„Was uns bislang fehlt, sind Idole“, sagt Alan. Sie könnten Kinder dazu bringen, andere Sportarten zu praktizieren. Und das wiederum sieht er als wichtiges Mittel zur sozialen Inklusion: „Sport holt Kinder von den Drogen weg.“ Viele der Athleten, die für Brasilien bei Olympia antreten, stammten aus armen Verhältnissen. Heute hätten sie ein gutes Leben, könnten ihren Familien Geld geben.

„Jetzt, wo die Spiele sowieso kommen, sollten wir sie feiern“, findet Alan. „Das ist etwas, das wir Brasilianer gut können.“

Erschienen am 3. August 2016 in der Olympia-Beilage der Freien Presse