Im Vorfeld sportlicher Großveranstaltungen werden oft ganze Stadtteile umstrukturiert: Sportarenen werden gebaut, alte Gebäude werden abgerissen. Vor den Olympischen Spielen im August 2016 in Rio sollten alte Problemviertel besser an die Stadt angeschlossen werden. Der Urbanist Orlando Alves dos Santos Junior spricht über den Stand der Dinge zum Beginn der Spiele.

Herr Santos, in welchem Verhältnis stehen die Favelas zur Stadt Rio? Sind sie Teil von ihr oder abgetrennte Räume?
Die Favelas sind als Räume der unteren Schichten entstanden und durch Informalität gekennzeichnet. In der Geschichte Rio de Janeiros gab es immer wieder Versuche, sie zu entfernen. Man kann nicht sagen, dass die Favelas nicht in die Stadt integriert sind, aber es handelt sich um eine Art untergeordneter Integration. Sie wurden aufgrund dessen zu Gebieten, die vom Drogenhandel kontrolliert sind, von Milizen oder von der politischen Maschinerie. Die Menschen, die dort leben, haben nicht den gleichen Status, nicht die öffentliche Versorgung, nicht die gleiche Lebensqualität. Ihre Rechte werden täglich verletzt, sei es durch den Staat oder durch die Gruppen, die das jeweilige Viertel kontrollieren.

Im Zuge der Olympischen Spiele wollte die Stadt bis 2020 sämtliche Favelas urbanisieren. Wie bewerten Sie das Programm „Morar Carioca“ (Wohnen auf Rio-Art)? 
Zunächst einmal finde ich es sehr gut, die Favelas ins Zentrum der politischen Prioritäten zu setzen. Das Konzept hatte auch positive Aspekte, zum Beispiel eine nicht ausschließlich urbanistische Perspektive. Frühere Programme waren fokussiert auf die Kanalisation, den Straßenbau und den Abriss von Häusern in Risiko-Lagen, also an steilen Hängen oder in Überschwemmungsgebieten. Morar Carioca hat auch den Bau von Wohneinheiten vorgesehen, sodass die Bewohner der Risiko-Gebiete innerhalb ihrer Favela umziehen konnten. Gut war außerdem, dass die Gemeinschaft beteiligt werden sollte. Aber das gesamte Vorhaben war wenig glaubwürdig. Nicht, weil es nicht realisierbar wäre, sondern weil die Stadt nie die erforderlichen Ressourcen mobilisiert hat – finanzielle, aber auch institutionelle, soziale und politische Ressourcen.

Haben sich die Zweifel bestätigt?
Allerdings. Peinlicherweise verschwand das Programm aus der Liste der Legate, die die Stadt Anfang 2014 an das Internationale Olympische Komitee übergab….

… Legate sind das „Erbe“, das die Spiele in der Stadt hinterlassen, also zum Beispiel das ausgebaute Transportsystem, die Sportstätten, neue Hotels…
Ja, genau. All diese großen Abkommen wurden im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen nicht angetastet. Die Wirtschaftskrise wirkte sich nur auf Morar Carioca aus – und auf das Umweltprogramm in der Guanabara-Bucht, das ebenfalls nicht annähernd fertig geworden ist. Die Favelas, in denen Morar Carioca umgesetzt wurde, lassen sich an einer Hand abzählen. Die wichtigste Nicht-Regierungsorganisation, die die soziale Beteiligung koordinieren sollte, wurde von dem Programm ausgeschlossen. Damit blieb die Logik von Morar Carioca bruchstückhaft: Die Bewohner einer Favela wurden gefragt, was sie in ihrer Favela für vordringlich halten. Am Ende entschieden meist die Technikteams, was tatsächlich umgesetzt wurde. Wenn man alle Favelas in die Stadt integrieren will, muss man aber auch gemeinsam über alle Favelas sprechen. Morar Carioca ist zu einem reinen Werbeprogramm geworden, um den internationalen Organisationen zu zeigen: „Schaut her, die Präfektur von Rio kümmert sich um ihre Favelas.“

Gibt es eine Berechnung des Schadens, der durch die enorme Verzögerung des Programms entstanden ist?
Nein. Es ist sehr schwierig, das zu berechnen, zumal der Schaden sehr viel mehr als nur finanziell ist. Natürlich gibt es die ökonomische Dimension, aber vor allem gibt es einen sozialen Effekt in den Favelas, die nicht urbanisiert werden. Die Menschen, die in diesen prekären Gebieten wohnen, haben eine geringere Lebenserwartung als die anderen Bürger. Sie haben einen geringeren Zugang zu Bildungseinrichtungen, Gesundheitseinrichtungen, zur Freizeit, zur Stadt.

Ein weiteres wichtiges Mittel zur Integration der Favelas in die Stadt war die Befriedungspolizei UPP („Unidades de Polícia Pacificadora“). Wie bewerten Sie diese Politik, vom urbanistischen Standpunkt aus?
Solange es notwendig ist, Favelas mit Waffengewalt zu kontrollieren, werden sie nicht zur Stadt gehören. Vom urbanistischen Standpunkt aus ist außerdem nicht zu übersehen, dass sich die UPP auf den Süden Rios konzentriert – auf die Gebiete, die für den Immobilienmarkt interessant sind: Copacabana, Ipanema, Botafogo… Die Bereiche rund um die Favelas haben stark an Wert verloren. Mit der Befriedungspolitik lässt sich der Wert wieder steigern. Es geht aber nicht nur darum, dass es sicher ist, in der Umgebung einer Favela zu wohnen. Es geht auch darum, dass es cool ist. Du gehst in die Babilônia, um zu Abend zu essen, was zu trinken, zu feiern. Du siehst ganz Rio von dort oben. Die Favelas werden neu definiert und als Konsumerlebnis verkauft.

Dient die UPP also nur den Bewohnern rund um die Favelas? 
Zumindest in erster Linie. Wenn sie innerhalb der Favela Sicherheit schafft, ist das ein Nebeneffekt. Das Ziel ist Sicherheit für die Stadt, und die hat die Favelas schon immer ausgeschlossen. In den Außenbezirken hat die Befriedungspolizei nochmal einen anderen Sinn. Die dortigen Favelas, in denen eine UPP eingerichtet wurde, haben eine symbolische Bedeutung für Rio de Janeiro, wie der riesige Complexo do Alemão. Der Effekt auf den Immobilienmarkt im Umfeld ist klein. Hier geht es darum, ein Gefühl von Ordnung herzustellen und zu zeigen, dass sich die Regierung mit der gesamten Stadt beschäftigt.

In der Favela Vila Autódromo haben die Bewohner mithilfe einer Forschergruppe einen eigenen Urbanisierungsplan entworfen. Inwiefern unterscheidet er sich vom Plan der Präfektur?
Er unterscheidet sich in jeder Hinsicht. Er war billiger als das, was die Präfektur geplant und umgesetzt hat, nämlich die Räumung der Favela. Er hat ein Urbanisierungsprojekt vorgesehen, das die Siedlung Vila Autódromo in den Olympiapark integriert hätte – das zeigt, dass die Räumung keinerlei Sinn gemacht hat. Und er war Ergebnis eines Prozesses, der die gesamte Gemeinschaft beteiligt hat.

Dieser Plan hat 2013 den Urban Age Award der Deutschen Bank gewonnen – und wurde vom Bürgermeister ignoriert. Warum? 
Weil es um ein exklusives Stadtprojekt geht, das das Viertel Barra da Tijuca in ein Wirtschaftszentrum verwandeln soll. Der Fall der Vila Autódromo ist skandalös, weil er genau das offenlegt. Es ist jedoch nicht der einzige Fall. Ein halbes Dutzend weiterer Favelas wurde aus dem Viertel entfernt und in die Peripherie verlegt. Als Wirtschaftszentrum braucht Barra da Tijuca aber die Arbeiterklasse. Was tut die Präfektur? Baut drei Schnellbus-Linien, damit die Arbeiter nach Barra da Tijuca und wieder zurück nach Hause kommen. Carlos Carvalho, Besitzer der gleichnamigen Immobilienfirma und eines Großteils der Grundstücke in diesem Stadtteil, sagt: „Barra ist kein Ort für Arme.“ Aus stadtplanerischer Sicht ist es irrational, Milliarden in ein Transportsystem zu stecken, anstatt Sozialbauten in den riesigen Freiflächen Barra da Tijucas aufzuziehen. Aber die öffentliche Macht in Rio de Janeiro spiegelt die Interessen der großen Baufirmen, des Immobilienmarkts, des Tourismus- und des Unterhaltungssektors wieder. Das Ergebnis dieses Projekts wird eine Stadt mit noch größeren sozialen Ungleichheiten sein, als sie es bereits ist.

Sieht der Urbanisierungsplan der Stadt in Wahrheit gar nicht die Integration, sondern die Räumung der Favelas vor?
Ich glaube nicht, dass die Stadt je geplant hat, sämtliche Favelas zu räumen – das wäre in Rio auch gar nicht möglich. Das Projekt der Präfektur zielt darauf ab, die Favelas zu entfernen, die die Elitisierung bestimmter Areale der Stadt verhindern, besonders in der Hafenzone und in Barra da Tijuca. Die Räumung ist Teil dieser Politik, genau wie die UPP oder die Urbanisierung. Die Maßnahmen unterscheiden sich je nach Gebiet und den dort geltenden Interessen des Markts. Es ist kein Stadtprojekt für alle.

Wie ist die Situation heute in den Favelas, die urbanisiert und befriedet wurden?
Es gab Verbesserungen, aber das Verhältnis zur Stadt hat sich nicht substanziell verändert. Favelas sind weiterhin stigmatisierte Räume. Dieses ungleiche Verhältnis verändert sich nicht allein durch punktuelle Stadtpolitik. Dazu ist auch Kulturpolitik nötig, Bildungspolitik, Sozialpolitik und vor allem Beteiligung der Einwohner. Die Favelas müssen neu definiert werden als Viertel, die vollständig zur Stadt gehören. Ihre Kultur und ihre Geschichte müssen wertgeschätzt werden. Leider gibt es bislang nur eine Neudefinierung für und durch den Markt.

Welche Legate werden nach den Spielen für die Bewohner Rio de Janeiros bleiben – besonders für die Bewohner der Favelas?
Das Konzept der Legate ist sehr gefährlich, weil es jede Diskussion verbietet. Es ist ein Mythos, mit dem die Präfektur ihr exklusives Stadtprojekt legitimiert. Meiner Ansicht nach müssen wir dieses Konzept aufgeben und die sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Effekte bewerten. Die entsprechende Analyse des olympischen Stadtprojekts zeigt, dass es ausschließend ist. Aus der Perspektive der Favelas sehen wir, dass das Urbanisierungsprogramm aus den Prioritäten der Stadt gestrichen wurde. Was in Rio de Janeiro passiert, ist gravierend! Und das ist kein lokales Problem. Heute ist es Rio, morgen Tokio, gestern war es London. Megaevents bringen keine Legate in die Stadt. Sie bringen Handel und ordnen die Stadt den großen Wirtschaftsinteressen unter. Dieses Modell von Megaevents müssen wir überdenken.

Erschienen am 2. August 2016 im Brasilien-Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung