Jhonata Dalber Mattos Alves war an diesem Donnerstagabend in die Favela Borel gegangen, um Popcorn bei seiner Tante zu holen, für die Kindergartenfeier des Bruders am nächsten Tag. Er starb durch einen Kopfschuss, aus der Pistole eines Beamten der „Befriedungspolizei“. Jhonata war 16 Jahre alt.

Am nächsten Abend versammeln sich seine Freunde auf der Hauptstraße neben der Favela, im Norden Rios. Gut 20 Jugendliche besetzen eine Fahrbahn, sie halten Banner und Schilder hoch. „Wir vermissen Jhonata“, steht darauf, „Favela ist ein Platz für Frieden, Freude für Kinder“. Sie skandieren: „Fora UPP“, Befriedungspolizei raus, werfen Maiskörner in die Luft und auf die eintreffenden Streifenwagen.

Einer der Demonstranten ist Leandro. Er hat gesehen, wie die Beamten der „Unidade de Polícia Pacificadora“ (UPP) Jhonata ansprachen. Der 16-Jährige habe die Hände gehoben, ohne die Popcorn-Tüte loszulassen. „Was hast du da?“, hätten sie gefragt, „Pipoca“, Popcorn. „Maconha?“, Marihuana? Das reichte dem Beamten, um auf den Kopf des Jungen zu zielen.

Leandro schaltete seine Handykamera ein. Das Video zeigt, wie zwei Beamte den leblosen Körper an den Hügel hinabtragen, aus seiner Stirn rinnt Blut. Anwohner kreischen, rufen „Ihr habt den Jungen umgebracht!“, „Feiglinge!“ Die Männer legen Jhonata auf die Rückbank des Streifenwagens, drücken seine Beine hinein, bis die Tür zugeht. Die Füße hängen noch halb aus dem Fenster, als die Polizisten losfahren. Ins Krankenhaus. Aber es ist zu spät für Jhonata.

Die Beamten der Befriedungseinheit im Borel erzählen eine andere Geschichte. Während ihrer Patrouille hätten sie zwei Männer auf einem Motorrad gestoppt. Einer der beiden sei bewaffnet gewesen und habe auf die Beamten geschossen – unter anderem Jhonata. Daraufhin hätten bewaffnete „Verdächtige“ in der Nähe das Feuer eröffnet. „Ein Mann wurde angeschossen und von den Polizisten ins Krankenhaus gebracht“, heißt es in einer Mitteilung der UPP.

Weder die Polizisten vor Ort noch die ermittelnde Mordkommission fanden eine Waffe bei Jhonata oder am Tatort. Beinahe täglich berichten die Medien von Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Drogenbanden in den Favelas, und von jungen Männern, die dabei sterben.

Laut Amnesty International werden in Brasilien 58 000 Menschen pro Jahr ermordet. 77 Prozent davon seien junge Schwarze zwischen 15 und 29 Jahren in den Peripherien der Städte. Weniger als acht Prozent kämen vor Gericht.

„Gerechtigkeit!“, rufen die Demonstranten. Einer hält eine Tüte mit Maiskörnern hoch und schreit: „Sieht das wie eine Waffe aus?“ Inzwischen sind zwölf Militärpolizisten vor Ort. Für 20 Jugendliche mit Plakaten und Maistüten. Leandro zeigt auf die Gewehre, die sie bei sich tragen: „Das ist ein 762. Mit so einem haben sie auf Jhonata geschossen.“

Nach dem Schock seien er und einige Freunde auf die Barrikaden gegangen, erzählt Leandro. Sie waren wütend. Eine Spezialeinheit der Militärpolizei, die „Polícia de Choque“, rückte an. Sie habe den Aufstand niedergeprügelt, Tränengasbomben gezündet. Schüsse fielen, sie waren in der Nachbarschaft zu hören.

„Heute protestieren wir friedlich“, sagt Leandro. „Zumindest ein paar von uns – die anderen haben Angst.“ Leandro hat keine Angst. Sein Video ist auf Facebook inzwischen über 1000-mal geteilt worden. Sogar der große Fernsehsender Globo verwendete Ausschnitte.

Die Bewohner bitten in den sozialen Netzwerken nur um eines: Frieden. Doch den sollen sie nicht bekommen. Kurz nachdem die Presse den Protest verlassen hat, knallt es. Die Luft füllt sich mit Rauch: Es sind Tränengasbomben.

Erschienen am 4. Juli 2016 auf RNZ Online und in der Printausgabe des Südkuriers