In der klassischen Geschichtsschreibung ist die Frau unsichtbar. Schulbücher, Lehrpläne an der Uni, historische Gemälde – die Frau ist selten mehr als ein schmuckes Beiwerk. Doppelt ignoriert wird die schwarze Frau. Im „Bairro da Liberdade“ (Viertel der Freiheit), einer Favela in der Stadt Salvador, kämpft eine kleine Familienorganisation für die Aufnahme der schwarzen Maria Felipa de Oliveira in die Geschichtsbücher.

Maria Felipa überfiel im Unabhängigkeitskrieg Brasiliens zusammen mit einer Gruppe von 40 Frauen ein Lager des portugiesischen Heers in der „Baía de Todos os Santos“, der Allerheiligenbucht vor der damaligen Hauptstadt Salvador. Im Unterschied zu früheren weiblichen Kämpferinnen verkleidete sie sich nicht als Mann und benutzte keine männlichen Waffen. Sie führte ihre Mitstreiterinnen, allesamt in traditionell bahianischen Kleidern, allesamt bewaffnet mit „Cansansão“, einer Pflanze, die bei Hautkontakt Verbrennungen verursacht.

Mit dieser femininen – natürlichen – Waffe griffen  sie die Portugiesen an und machten sie wehrlos, um anschließend 42 Schiffe der feindlichen Flotte in Brand zu setzen. Diese entscheidende Episode des brasilianischen Unabhängigkeitskampfes ist nahezu unbekannt. Mit einem spärlich, aber liebevoll eingerichteten Museum im Viertel der Freiheit wollen die Chemieprofessorin Hilda und ihre Schwester Sichtbarkeit für Maria Felipa und andere schwarze Frauen schaffen.

Wie wird die brasilianische Frau, ob schwarz oder weiß, heute gesehen, zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Betrachten wir die öffentliche Sphäre, die repräsentative Seite des Landes, sehen wir – nicht viel. In der Politik, in der Wirtschaft sind Frauen Mangelware. Brasilien wird von Männern regiert, und Männer regieren meist für Männer. Erst 2006 verabschiedete der Staat ein Gesetz, das häusliche Gewalt gegen Frauen unter Strafe stellt.

Besonders im ländlichen Raum, erfahren wir bei der Organisation ELO, sind Frauen nahezu rechtlos. Seit 2003 dürfen sie, nach beinahe zwei Jahrzehnten des Kampfes lokaler Frauengruppen, immerhin eigene Kredite beim „Nationalen Programm zur Stärkung der familiären Landwirtschaft“ (PRONAF) beantragen. In Zusammenarbeit mit der Banco do Brasil entwickelte die Regierung innerhalb des PRONAF eine spezielle Finanzierung für Frauen, mit der sie selbstständig landwirtschaftliche und andere Aktivitäten aufbauen können. Bis dato waren sie zu 100 Prozent von ihren Ehemännern abhängig, die das Geld verdienten und den gesamten Grund und Boden der Familie besaßen.

Die Arbeit, die Frauen in den ländlichen Gebieten verrichten, bleibt oftmals unsichtbar und minderwertig. Neben der Hausarbeit erledigen sie  ‚Handlangertätigkeiten‘ für ihre Männer, die nicht als eigenständige Arbeit gelten. Hinter den Kulissen pflücken, sammeln und verarbeiten zum Beispiel „quebradeiras de coco“, Kokosbrecherinnen, Kokosnüsse, klettern auf Palmen und schleppen Nüsse nach Hause, fertigen Kunsthandwerk oder Kokosöl, und am Ende des Tages verkaufen ihre Männer die Produkte auf dem Markt. Das Geld bleibt bei ihnen, und damit auch die Macht.

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Im urbanen Raum ist die Situation der Frauen zwar besser; dennoch befinden sich nur 1% der 500 größten Firmen Brasiliens in weiblicher Führung. Stephen Kanitz, brasilianischer Journalist, stellt in seinem Artikel „Administração Feminina“ (Weibliches Management) fest, dass große Unternehmen von männlichen Strukturen und militärischen Begrifflichkeiten geprägt sind: „Märkte erobern“, „Werbekampagne“, „Preiskampf“ und so weiter. Die Frau, die dort ‚einfallen‘ will, muss sich anpassen und „auf die Musik der Männer tanzen“. Als Minderheit kann sie kaum eigene Formen des Managements einbringen.

Im Gegensatz zu den Wirtschaftsbetrieben sind die 400 größten Wohltätigkeitsorganisationen des Landes zu einem großen Teil weiblich geführt und, laut  Kanitz, „effizienter, kompetenter und dynamischer“. Sie sind ständigen Wandlungen und knappen Budgets ausgesetzt und reagieren darauf mit einem „weiblichen Führungsstil“, „neuen Techniken und Konzepten“.

Die Chance der Mittel- oder Oberschichtfrau auf eine öffentlich relevante, mit Macht verbundene Position ist zwar vorhanden, verhältnismäßig aber nach wie vor nichtig, wie der Anteil von Frauen in  Führungspositionen im Wirtschaftssektor zeigt. Stella, unsere Führerin durch das besagte Bairro da Liberdade – eine junge, schwarze Stadtplanerin, die stolz afrikanisch inspirierte Kleidung und Schmuckstücke zu ihren krausen Locken trägt – hält die Macht der brasilianischen Frau für subtiler als etwa in Deutschland.

Sie führt – versteckt, unsichtbar – ihre Familie und dominiert ganze Favelas, wo Männer oft abwesend sind, sei es, weil sie außerhalb arbeiten, sei es, weil sie ihre Familien verlassen. Das gesamte Gemeindeleben, das in Favelas sehr ausgeprägt ist, liegt zu einem großen Teil in Frauenhänden. Favelas sind angesichts der Abwesenheit von Kommune, Land oder Staat meist selbstorganisiert, gründen Schulen und Kindergärten, bauen Straßen und semi-öffentliche Plätze in Eigenregie. Solidarische Bande wiegen hier noch stärker als in den reicheren Teilen der Metropolen.

Im Gegensatz zur üblichen Einschätzung scheint die Macht der armen Frau also möglicherweise größer zu sein als die der reichen Frau. Letztlich beschränkt sie sich aber, in allen Milieus, auf den privaten Bereich und bleibt damit unsichtbar. Gerade die arme Frau hat kaum eine Chance, öffentlich sichtbar zu werden.

Diese Form der weiblichen Macht, die sich durch alle Schichten zieht, ist streitbar. Zum einen bleibt sie in einem ‚Ghetto‘ – in der Favela wie in der Familie –, zum anderen äußert sie sich oftmals im Ausspielen des weiblichen Körpers und der Geschlechtlichkeit. Schönheit ist in Brasilien ein Schlüsselwort und alltägliche Sorge von Millionen Frauen (wie Männern). Hier lässt sich mit einem tiefen Ausschnitt, einem Augenaufschlag und einer weichen Stimme fast alles erreichen. Frauen werden damit auf ihre Körperlichkeit reduziert und reproduzieren selber die Stereotype.

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Reproduktion ist das Stichwort, das im traditionellen Geschlechterkonzept den Bereich der Frau markiert. Während der Mann Produktivität und Aktivität repräsentiert und in der Öffentlichkeit agiert, wird die Rolle der Frau auf Reproduktion und Passivität beschränkt und auf den Privatbereich verwiesen. Die Frau ist im Endeffekt eine Gebärmaschine.

In Deutschland ist dieses klassische Konzept seit der Frauenbewegung der 1970er-Jahre im Wandel (von einem Abschluss kann auch bei uns keine Rede sein!); in Brasilien, wo bis 1985 eine Militärdiktatur herrschte, sind die Umwälzungen ganz aktuell. Frauen werden hier noch wesentlich stärker als Körper betrachtet und kontrolliert – alle 15 Sekunden erfährt eine Frau Gewalt in ihrer eigenen Familie. Häusliche Gewalt ist Privatsache, das wenige Jahre alte Gesetz wird noch einige Zeit brauchen, um sich in den Köpfen festzusetzen.

Erst, wenn in den Köpfen der Einzelnen Männer und Frauen gleichwertig sind, kann Gleichberechtigung tatsächlich herrschen und die brasilianische Kultur des „machismo“ überwunden werden.  Eine Änderung der Werte, in der Gesellschaft und damit in den Individuen, muss parallel über verschiedene Institutionen erfolgen: über die Bildung, die Politik und die Religion. Frauen müssen  formal die gleichen Rechte haben wie Männer, Verstöße dagegen Sanktionen nach sich ziehen.

Rechtliche Maßnamen müssen auch dafür sorgen, dass Frauenarbeit ebenso finanziell gewürdigt  wird wie Männerarbeit. Neben dieser strukturellen Seite muss vor allem bei Kindern und Jugendlichen angesetzt werden, den Männern und Frauen von morgen. In Schulen, in Freizeiteinrichtungen und langfristig in der Familie müssen sie lernen, dass das Geschlecht ein soziales Konstrukt ist, dass Frauen und Männer gleichwertig sind und dass es nicht ‚normal‘ ist,  seine Frau zu schlagen beziehungsweise sich misshandeln zu lassen. Dieser Ansatz wird sicherlich mindestens eine Generation brauchen, um Früchte zu tragen, ist dafür aber am nachhaltigsten und pflanzt sich eigendynamisch weiter fort.

Auch die heutigen Erwachsenen kann man über den Bildungsbereich ansprechen. CRIA, eine Partnerorganisation von Brot für die Welt in Salvador,  bietet zum Beispiel Treffen für die Familien der Kinder und Jugendlichen an, mit denen sie arbeitet. Bei diesen Treffen – zu denen hauptsächlich Mütter erscheinen – wird etwa über die Rechte  der Frau in der Familie gesprochen. Solche Angebote müssen allerdings auch Männer erreichen.

Einer der wichtigsten wertprägenden Bereiche ist in Brasilien die Religion. Und genau hier liegt vermutlich eines der größten Probleme. In der Bibel wird die Frau von Anfang an als minderwertig dargestellt, entstanden aus der Rippe des Mannes. Dementsprechend gestehen die nach wie vor dominante katholische Kirche, aber auch die rapide wachsenden Pfingstkirchen den Frauen  keine essentiellen Rechte wie das auf Abtreibung zu.

Offiziell ist zwar zumindest die Abtreibung nach einer Vergewaltigung erlaubt, praktisch stellt sich die Kirche jedoch dagegen und zieht zum  Beispiel Ärzte auf ihre Seite, die dann den Eingriff erschweren oder verhindern. Ein neunjähriges Mädchen, das von seinem Vater vergewaltigt wurde, trägt nun dank einer Kirchenkampagne ein  Kind aus, bei dessen Geburt es möglicherweise ums Leben kommt.

Die Kirche hat in Brasilien nicht nur moralisches, sondern auch großes politisches Gewicht, mit zahlreichen Lobbyisten in der Regierung, die einer Stärkung der Frauenrechte im Weg stehen.  Nicht zuletzt über die Bildung kann dieses Potential der Religion aber eingeschränkt beziehungsweise umgewertet werden. Es ist ein steiniger Weg zur Gleichberechtigung der brasilianischen Frau, aber er ist zu bewältigen.

Auch in Deutschland haben wir in wenigen Jahrzehnten Umstöße geschafft, die niemand für möglich gehalten hätte. Eine junge Frau kann sich heute kaum mehr  vorstellen, wie ihre Großmutter gelebt hat: Bis 1958 durfte in der Bundesrepublik der Mann das Geld seiner Frau verwalten, sofern er sie überhaupt arbeiten ließ. Erst mit dem „Gesetz über die  Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts“ vom 1. Juli 1958 erhielten Frauen das Recht, ohne Erlaubnis des Gatten zu arbeiten – „soweit dies mit ihren  Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist“. 1977 legte ein weiteres Gesetz fest, dass das Familienvermögen gemeinsam verwaltet wird.

Seit 2005 hat Deutschland seine erste Kanzlerin – 2010  könnte auch Brasilien eine Präsidentin bekommen. Dilma Roussef, die für die regierende Arbeiterpartei (PT) kandidieren soll, gilt als Favoritin für die Wahlen in diesem Jahr. Das wäre ein rasanter Schritt hin zur Sichtbarkeit der Frau und zu einer Veränderung in den Köpfen der brasilianischen Bürger.

Im Oktober 2009 folgte die ESG Kaiserslautern einer Einladung der ONG Acao Pela Cidadania (ACP) in Brasilien, einer Nichtregierungsorganisation für Menschen- und Bürgerrechte, die schwerpunktmäßig im brasilianischen Bundesland Bahia aktiv ist, aber auch Kontakte zu Menschenrechtsorganisationen in anderen brasilianischen Bundesstaaten unterhält. Sitz der ACP ist die Stadt Salvador. Laura Geyer, Teilnehmerin der vom EED und der AEJ geförderten Begegnung, hat sich im Zuge der Evaluation näher mit der Rolle der Frau in Brasilien beschäftigt.

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